Die notwendigen Vorbereitungen auf die Dzogchen-Praxis

In Internet-Dharma-Foren entspringt immer wieder einmal eine heftig geführte Diskussion, wenn folgendes Thema angerissen wird: „Welche Praktiken muss man machen, bevor man Dzogchen praktizieren kann?“ Dann wird oft eine Minimalformel genannt, die in etwa lautet: Mache die vorbereitenden Übungen (Ngöndro) und gehe direkt zu Dzogchen über.

Oder in den Worten zweier Zitate aus einem Diskussionsthread speziell über das Düdjom Tersar Ngöndro, die mir von einem Freund zugeschickt wurden, der mich nach meiner Meinung zu diesem Thema fragte:

„Das Düdjom Tersar Ngöndro ist ein vollständiger Pfad. Das ausführliche Ngöndro sagt ausdrücklich, dass darüber hinaus keine andere Praxis notwendig ist. In Düdjom Rinpoches gesammelten Werken, in dem Band, der das ausführliche Ngöndro und seinen Kommentar enthält, finden sich unmittelbar danach die beiden Hauptanleitungen für die Praxis von Dzogchen. Wenn man diesem System folgt, braucht man eigentlich gar keine andere Praxis.”

„Im langen Düdjom Tersar Ngöndro wird gesagt, dass es ausreicht, und dass es nicht notwendig ist, andere Praktiken der Entstehungs- oder Vollendungsstufe zu machen. Auf dieser Grundlage erhält man dann Belehrungen über die Drei Himmelsräume und den Text über Rushän und Thögäl.“

Zunächst möchte ich sagen, dass ich für den Verfasser dieser Zeilen aufgrund seiner Gelehrsamkeit und seines enzyklopädischen Wissens über den Dharma und verwandte Themen allerhöchsten Respekt habe. Seine Position findet sich auch fast wortgleich in Düdjom Rinpoches Ati (Dzogchen) Kommentar innerhalb des Phurba Namchag Putri Zyklus wieder (meine Übersetzung):

„Wenn man einem Schüler die ganze Vollkommenheit und Reifung der Vollendungsphase erklären möchte, dann gibt man, angefangen von den vorbereitenden Übungen für jede Sitzung, die allgemeinen vorbereitenden Übungen des Reinigens des Geistes und des Ansammelns von Verdienst und die außergewöhnlichen vorbereitenden Übungen des Unterscheidens von Samsara und Nirwana. Danach erklärt man nach und nach den Hauptteil, die direkten Anweisungen von Threkchö und Thögäl, wie sie hier [in diesem Text] gelehrt werden, bis die jeweiligen Erfahrungen in seinem Seinsstrom entstanden sind. “

Und nur um das klarzustellen, die Bedeutung und der Nutzen von Ngöndro-Praxis kann nicht hoch genug bewertet werden. Und ja, (Dzogchen-bezogene) Texte nehmen die Position ein, direkt von der Ngöndro- zur Dzogchen-Praxis überzugehen. Leider stellt sich heraus, dass die obige Position ohne weitere Erklärungen unerwünschte Nebeneffekte für Personen hat, die Gesamtstruktur und Absicht der Dharma-Praxis noch nicht ausreichend verstanden haben. Das möchte ich erklären:

Wir alle wollen den allerbesten, schnellsten und elitärsten Weg zur Erleuchtung. Wir alle schrecken vor langen und manchmal schwierigen Praktiken zurück, deren Zweck für unsere Entwicklung wir noch nicht ausreichend abschätzen können. So ist es nur natürlich, dass Anfänger den besagten schnellsten Weg zur Erleuchtung wollen, von ihren Lehrern erwarten, ihn zu bekommen, und dann enttäuscht sind, wenn sie durch „niedrigere“ Praktiken der Entstehungs- und Vollendungsphase einer Gottheit aufgehalten werden.

Ihr Fehler, und damit die unglückliche, wenn auch unbeabsichtigte Botschaft von Aussagen wie den obigen ohne den dafür notwendigen Kontext ist, dass der direkte Weg von Ngöndro zu Dzogchen für jeden gangbar wäre. Obwohl die Dzogchen-Texte immer wieder darauf hinweisen, dass diese Ebene von Praxis den Besten der Besten, der Crème de la Crème der Praktizierenden vorbehalten ist – das sind Namen wie Garab Dorje, Manjushrimitra, Shri Singha, Padmasambhava und so weiter – ist es nur zu einfach, sich selbst irgendwie auch in die Reihen dieser Dharma Elite zu stellen.

Natürlich ist es wahr, was die Dzogchen-Schriften (und verwandte Texte) sagen. Aber es ist ebenso wahr, wenn man sagt, dass jeder Mensch ein Kampfpilot sein kann. Aber wir alle haben von Topgun gelernt, dass nur die wenigsten dieses Kunststück tatsächlich fertig bringen.

Für die meisten (sprich: praktisch alle) von uns wird deshalb der Versuch, von Ngöndro auf die Ebene der Dzogchen-Praxis zu springen, nicht funktionieren. Die Essenz aller Ngöndro-Praktiken ist Guruyoga, das heißt die Vereinigung eines unerleuchteten Ichs mit einem erleuchteten Anders-als-Ich, was zu Recht als der königliche Weg zur Befreiung gepriesen wird. Und die Dzogchen-Praxis ist, kurz gesagt, dann das Ruhen in dieser gefundenen Erleuchtung. Aber wenn die Dinge haarig werden, werden sich die meisten von uns instinktiv in ihr eigenes Zentrum zurückziehen. Und sich zurückziehen bedeutet zugleich, sich auch von dem erleuchteten Anderen, dem Lama, Rigpa, der Dzogchen-Sichtweise zu entfernen. Wir haben dabei keinerlei Freiheit, etwas anderes zu tun; es ist die Natur von Samsara. Wir sind unerleuchtet und allein, wenn wir es am meisten brauchen.

Deshalb hat der heilige Dharma in weiser Voraussicht Zwischenschritte ausgearbeitet, die uns helfen, auch dann zumindest eine gewisse Gegenwärtigkeit der erleuchteten Ebene aufrechtzuerhalten. Oder, in den Worten eines Schülers von Patrul Rinpoche (die ich vor langer Zeit gelesen habe, aber nicht mehr wiederfinden kann): „Wenn deine Sichtweise zu ihrem Ende kommt, brauchst du die Yidam-Gottheit.“ Wenn wir uns in einen Buddha verwandeln, in die Erleuchtung in Form einer Yidam-Gottheit, die wir gewählt haben, und uns darin üben, uns als solche zu erfahren, werden wir uns, wenn die Dinge wieder eng werden, zurückziehen – dieses Mal aber nicht in unser gewöhnliches Selbst, sondern in die Form der Yidam-Gottheit. Und selbst wenn wir nicht verhindern können, dass die Dualität unsere Erfahrung der Einheit zerreißt, so werden wir doch wenigstens durch die äußere Form der Gottheit und den Klang des Mantras an die befreienden Qualitäten erinnert. Daran können wir festhalten, bis sich die Situation beruhigt hat, und eine natürlichere, dzgochenischere Sichtweise wieder möglich wird.

Dies ist der Kontext, der in den obigen Diskussionen oft fehlt. Vor allem, wenn man bedenkt, dass das obige Zitat aus Düdjom Rinpoches Ati-Kommentar ganz am Ende einer vollständigen Präsentation des gesamten Vajrakilaya-Pfades steht, der in nicht weniger als sieben Kommentaren dargelegt wird. Die ersten sechs davon beschäftigen mit den Praktiken der Entstehungs- und energetischen Vollendungsphase. Wenn Düdjom Rinpoche tatsächlich gedacht hätte, dass Ngöndro-Praxis allein ausreiche, um in Dzogchen einzutreten, hätte er sich die Arbeit von in etwa 350 Seiten an Kommentaren sparen können.

Dieselbe Botschaft vermittelt auch Dilgo Khyentse Rinpoche in seinem Rat an die Ngagpas von Rebkong in den vorherigen beiden Einträgen auf diesem Blog (hier und hier): Nämlich die in unserer Nyingmapa-Schule als allgemein gültig geltende Ansicht, dass die kombinierte Praxis aller drei inneren Tantras von Maha, Anu und Ati (was lose mit Entstehung, Energiepraxis und Dzogchen umrissen werden kann) der beste Garant dafür ist, sicher Befreiung zu erlagen.

Ich denke, wir sollten auf die Weisheit von 1.200 Jahren Linienpraxis vertrauen!


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